Portraits von Karim Fereidooni und Saba-Nur Cheema

Zwei Expert:innen erläutern die Ergebnisse im Bereich Bildung

Auf Initiative des Bundesministeriums des Innern und für Heimat wurde der sogenannte Unabhängige Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (kurz: UEM) vor rund drei Jahren eingesetzt, insbesondere auch in Reaktion auf den rassistischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020. Neun Expert:innen haben seitdem relevante Studien, Erkenntnisse, aber auch Handlungsstrategien erarbeitet, die sich in einem 400-seitigen Bericht wiederfinden. Dieser wurde in Berlin am 29.06.2023 vorgestellt und verdeutlicht, dass Muslimfeindlichkeit sehr stark in der Breite der Gesellschaft verankert ist und Muslim:innen bzw. auch diejenigen, die als Muslim:innen wahrgenommen werden, in den verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft keine gleichberechtigte Teilhabe genießen. Im Kontext von Schule drückt sich dies u.a. dadurch aus, dass Diskriminierung gegenüber Muslim:innen von ca. 1/3 aller Lehrkräfte ausgeht und der frühkindliche Bildungsbereich noch weit davon entfernt ist, diversitätsorientiert und rassismuskritisch aufgestellt zu sein.

Sarah Zendeh von ZEOK e.V. hat zwei der Expert:innen zum Themenbereich Bildung interviewt. Mit Saba-Nur Cheema hat sie die Notwendigkeit der rassismuskritischen Ausbildung und Arbeit von pädagogischen Fachkräften in den Blick genommen. Mit Prof. Dr. Karim Fereidooni haben wir zum Thema antimuslimischer Rassismus im Kontext Schule ein Gespräch geführt.

Der Bildungsbereich hat die Bekämpfung dieses Phänomens überhaupt nicht auf dem Schirm

Politologin und Anti-Rassismustrainerin Saba-Nur Cheema über Muslimfeindlichkeit und antimuslimischen Rassismus in Kitas und Schulen

Saba-Nur Cheema ist Politologin und Antirassismus-Trainerin. Aktuell forscht sie an der Goethe-Universität zu religiösen Differenzkonstruktionen in der frühen und mittleren Kindheitsphase. Von 2015-2021 war sie Pädagogische Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank. Gemeinsam mit Meron Mendel schreibt sie die monatliche Kolumne „Muslimisch-Jüdisches Abendbrot“ in der FAZ.

Foto: David Bachar

Sarah Zendeh: Frau Cheema, welche Erkenntnisse des UEM-Berichts erachten Sie als relevant für die Arbeit und auch für die zukünftige Ausbildung von pädagogischen Fachkräften?

Saba-Nur Cheema: Zunächst einmal haben wir festgestellt, dass im Bereich der Bildung, der aus verschiedenen Feldern besteht, die Bekämpfung des Phänomens Muslimfeindlichkeit bzw. antimuslimischer Rassismus bei den wenigsten auf der Agenda steht. Das betrifft sowohl den frühkindlichen Bereich, sprich Kitas und Grundschulen, weiterführende Schulen sowie die Hochschulen. Nur gelegentlich werden Maßnahmen – wie Workshops oder Fachtagungen – veranstaltet und einzelne Institutionen greifen das Thema auf. Zum Teil tragen sie mit ihren Programmen und Inhalten dazu bei, dass sich Muslimfeindlichkeit verbreitet.

Sarah Zendeh: An welchen Parametern kann man dies festmachen?

Saba-Nur Cheema: Wir haben beispielsweise eine umfassende Studie über Schulbücher und Lehrpläne in Auftrag gegeben. Das Ergebnis zeigt, dass Muslimfeindlichkeit kaum als ein Diskriminierungsphänomen auf dem Lehrplan steht – Im Gegenteil, antimuslimische Narrative und Stereotype werden durch Schulmaterialien perpetuiert. Der Islam und Muslim:innen tauchen vor allem dann auf, wenn es um Terror, Integrationsschwierigkeiten und Frauenunterdrückung geht. Dieses negative Bild muss korrigiert werden, indem muslimisches Leben auch positiv oder neutral dargestellt wird. Im zweiten Schritt müsste Muslimfeindlichkeit thematisiert werden, denn die Diskriminierung ist ein Problem für die Gesamtgesellschaft – genauso wie Sexismus, Antisemitismus und andere Formen der Abwertung sprechen.

Sarah Zendeh: Was bedeutet das konkret für die Ausbildung von Pädagog:innen und Lehrkräften?

Saba-Nur Cheema: Für Lehrkräfte und Pädagog:innen sollte das kein optionaler Teil in der Ausbildung sein, sich mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auseinanderzusetzen. Das sollte verpflichtend sein. Übrigens ist es egal, ob es um die Lehrkraft für Geschichte, Mathe oder Sport geht: die Auseinandersetzung mit Diskriminierung von gesellschaftlichen Gruppen verstehe ich als ein Querschnittsthema für alle Fächer und Berufsgruppen.

Sarah Zendeh: Gibt es konkrete Haltungen und Kompetenzen, wie sich diese Sensibilisierung auch im Verhalten widerspiegeln sollte?

Saba-Nur Cheema: Oft bleiben wir auf der oberflächlichen Ebene und sagen, „ja klar, Sensibilisierung für Rassismus und Diversität ist wichtig“, aber es bleiben Koffer-Begriffe. Jede:r versteht darin, was er oder sie meint, darin zu sehen – weshalb sich auch die Frage stellt, ob wir alle überhaupt die gleiche Definition von Rassismus bzw. Diversitätssensibilität haben? In der Praxis kann das auch zu Konflikten führen, wenn Vielfalt positiv anerkannt wird, obwohl man die Unterschiede doch gar nicht erwähnen möchte – so kommt es häufig dazu, dass betroffene Kinder oder Jugendliche exotisiert und zu den „Anderen“ gemacht werden (Othering). Das ist das vielseits bekannte „Differenzdilemma“ der Pädagogik: die Differenz anzuerkennen, ohne sie zu reproduzieren. Ich glaube, wir können uns dem nähern, indem wir möglichst greifbare Kriterien für einen sensiblen Umgang mit Differenz entwickeln – dazu gehört z.B. Pauschalisierungen zu vermeiden, indem erlernte Erklärungsmuster, die Menschen auf ihre Nationalität oder Religion reduzieren, hinterfragt werden. Gut gelingt dies durch konkrete Fallarbeit, z.B. in Form der kollegialen Beratung oder des Austauschs, um über bestimmte Vorfälle im Kolleg:innenkreis zu diskutieren, Expert:innen einzuladen und gemeinsam zu überlegen, wie in dieser oder jener Situation differenzsensibel gehandelt werden kann.

Sarah Zendeh: Welche alternativen Orte des Zusammenkommens braucht es, die einen niedrigschwelligen Zugang zu diversen Gruppen ermöglichen?

Saba-Nur Cheema: Das ist z.B. die Krabbelgruppe oder der Sportverein, wo plurales Zusammenleben gelebt wird, ohne dass es die ganze Zeit zum Thema gemacht wird. In Frankfurt bspw. gibt es Stadtteile, wo es Initiativen und Projekte gibt, in denen Begegnung auf ganz natürliche Art und Weise stattfindet. Ja, in Frankfurt kann das gut funktionieren, aber wie soll das z.B. in Thüringen auf dem Land gehen? Mir ist klar, dass es dort begrenzte Möglichkeiten gibt. Doch sind Sportvereine, Stadtteilfeste u.Ä. wichtige Orte, wo Begegnung geschaffen wird und werden kann und man viel über das plurale Zusammenleben lernt.

Sarah Zendeh: Welche Veränderungen braucht es in den Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit, um diese rassismuskritisch aufzustellen? Was braucht es, um Fachkräfte hier gut zu unterstützen?

Saba-Nur Cheema: Ich forsche aktuell im Kontext von Kitas dazu, inwiefern Differenzkonstruktionen schon im Kindesalter relevant sein können und wie sie sich äußern. Ein Problem, das häufig vorkommt, ist, dass pädagogische Fachkräfte Rassismus selten wahrnehmen. Dies führt dazu, dass die, die ohnehin schon Interesse am Thema haben, sich darin vertiefen und weiter mit dem Thema auseinandersetzen. Dabei wäre eine Auseinandersetzung mit dem Thema auch auf der Leitungsebene zentral. Mit Blick auf Spielmaterial und Bücher nehme ich wahr, dass zwar häufig über den Wunsch nach Diversifizierung gesprochen wird, aber die praktische Umsetzung noch hakt. Neben problematischem, stereotypisiertem Spielzeug und Büchern werden bspw. immer noch Lieder gesungen, die z.B. kolonialrassistische Bilder vermitteln, die sich dann bei Kindern festsetzen können. Ähnliches betrifft auch Bücher, bei denen sich die Frage stellt: Wer ist zu sehen und wer nicht? Und wer ist in welchem Kontext zu sehen? Und es betrifft natürlich auch das Thema Religion bzw. Religionssensibilität – gibt es Bücher, in denen der Islam dargestellt wird und geht es dann um die Religion oder ist es einfach nebenbei ein Thema? D.h. wann ist es Normalität und wann ist es etwas Besonderes? Leider gibt es dazu noch sehr wenige deutschsprachige Bücher, doch das Angebot von diversitätsbewusstem Spielmaterial steigt. Dieses zu nutzen, wäre wichtig. So nehmen nicht nur Kinder, sondern auch Erzieher:innen Diversität wahr, ohne dass jemand vor ihnen steht und sagt: „Das gehört jetzt dazu“. Denn das Material kann sozusagen für sich sprechen. Neben diesen Maßnahmen sollte es Weiterbildungsmaßnahmen geben, um zu fördern, das bestimmte Themen umgesetzt werden, wie z.B. Themenwochen oder Thementage mit verschiedenen Schwerpunkten.

Natürlich hat das auch immer mit der Gruppe und deren Zusammensetzung zu tun, welche Themen für sie relevant oder z.B. unbekannt sind. Wenn eine Gruppe beispielsweise überwiegend aus muslimischen Kindern bzw. Jugendlichen besteht, dann ist es auch wichtig, für diese Gruppe etwas anzubieten, also zielgruppenspezifisch zu arbeiten und Angebote zu schaffen. Damit kommen wir wieder zurück zum Thema Fachkräfte, die stärker sensibilisiert und unterstützt werden sollten und denen viel mehr Best Practice Beispiele im Rahmen von Weiterbildungen vermittelt werden sollten, denn die gibt es.

Sarah Zendeh: Was braucht es aus Ihrer Sicht, um mehr Menschen mit Migrationsbiografie und / oder eigenen Rassismuserfahrungen als Fachkräfte für die Kinder- und Jugendarbeit zu gewinnen? Gibt es Initiativen, von denen wir hier lernen können?

Saba-Nur Cheema: Da bin ich immer ein wenig ambivalent. Was den Lehrberuf betrifft, gibt es an vielen Universitäten bestimmte Programme für Lehrkräfte mit Migrationshintergrund bzw. Lehramtsstudierende und das hat natürlich wiederum diesen Marker. Andererseits wird die Migrationsgeschichte auch immer als Potenzial und Notwendigkeit gesehen, das Lehrer:innenzimmer pluraler zu gestalten, weil es die gesellschaftliche Realität besser widerspiegelt. Aber man sollte wahrscheinlich noch weiter zurückblicken: Wer schafft es überhaupt an die Uni? Wer macht Abitur, wer hat bessere Chancen, wer kriegt eher eine Gymnasial-Empfehlung? Entsprechend ist es keine leichte Frage, wie man überhaupt Menschen mit Migrationsbiografie oder muslimischem Hintergrund dafür gewinnen kann, dass sie im Bereich der Pädagogik arbeiten. Ein Beispiel aus einem Workshop mit einer siebten Klasse zeigt, dass diese Einschränkungen bezüglich der Berufswahl früh anfangen. Einmal sagte mir ein muslimisches Mädchen, dass sie in zwei Jahren anfangen werde, das Kopftuch zu tragen, so habe sie das mit ihrer Mama ausgemacht und sie erzählte dies auch ganz selbstbewusst. Und als ich sie fragte, was sie später einmal machen wolle, sagte sie, dass sie ja sowieso keine Lehrerin werden könne, das mache sie schon mal nicht. Sie hat sich in diesem Moment gar nicht als Opfer dargestellt, sondern eher mit einer Selbstverständlichkeit gesprochen, weil es ja tatsächlich als Lehrkraft mit einem Kopftuch in Deutschland nicht leicht ist. Und das ist natürlich bitter zu hören, denn es zeigt, dass Chancengleichheit eher Ziel als Praxis ist und immer noch nicht alle die gleichen Möglichkeiten haben. Auch auf der Ebene von Fachkräften ist es nach wie vor schwierig. In einer Kita z.B. haben zwei muslimische Kolleginnen diese verlassen und in eine andere gewechselt, weil sie auch innerhalb des Kollegiums Abwertungen erlebten und sich auf ihr Muslim-Sein reduziert sahen. Dabei bietet gerade der Arbeitskontext, das Zusammenarbeiten in Teams, die ideale Möglichkeit, Diversität zu leben, ohne die Unterschiede ständig zu betonen. Im Lehrkollegium oder im Kita-Personalteam geht es letztlich um die Jugendlichen bzw. die Kinder. Dieser Fokus ermöglicht, gemeinsam Ziele zu definieren und die unterschiedlichen Kompetenzen jedes Teammitglieds einfließen zu lassen.

Sarah Zendeh: Vielen Dank für das aufschlussreiche und spannende Gespräch, Frau Cheema.



Wenn wir über antimuslimischen Rassismus sprechen oder forschen wollen, müssen wir uns auch damit befassen, was ausgeklammert wird.

Prof. Dr. Karim Fereidooni, Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum

Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen, Schulforschung und Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft und Diversitätssensible Lehrer:innenbildung.

Foto: Nils vom Lande

Sarah Zendeh: Herr Fereidooni, welche Erkenntnisse aus dem kürzlich erschienenen UEM-Bericht in Bezug auf das Handlungsfeld Bildung erachten Sie als besonders relevant, mit Blick auf die Arbeit von Lehrkräften sowie auch allgemein für Schulen?

Karim Fereidooni: Als besonders interessanten Punkt möchte ich gerne die Studie zum Thema Schulbücher und Curricula rausgreifen. Insgesamt wurden 761 Schulbücher in den Fächern Geschichte, Politik, Sozialkunde und Geografie sowohl von allgemeinbildenden als auch berufsbildenden Schulen in allen 16 Bundesländern bezüglich der Darstellung von Muslim:innen untersucht. Aus diesen Untersuchungen geht hervor, dass Muslim:innen, wenn sie denn überhaupt in Schulbüchern vorkommen, primär negativ dargestellt werden, beispielsweise im Zusammenhang mit Terror oder mit Herausforderungen für die deutsche Gesellschaft. Zudem haben wir bundesweit 348 Lehrpläne untersuchen lassen und hierbei fällt auf, dass in keinem der untersuchten Lehrpläne auf die Themen Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus verwiesen wird. Wenn wir also über antimuslimischen Rassismus sprechen oder forschen wollen, müssen wir uns auch damit befassen, was ausgeklammert wird. Dies betrifft explizit den Themenbereich antimuslimischer Rassismus. Lehrkräfte und Schüler:innen nehmen Schulbücher nicht als „normale“ Bücher wahr, sondern glauben, dass diese die ultimative Wahrheit beinhalten. Schulbücher durchlaufen einen komplexen Prozess, um überhaupt genehmigt zu werden. Da an diesem Prozess Bundesländer, Schulbuchverlage und Expertengremien beteiligt sind, glauben sowohl Lehrkräfte als auch Schüler:innen, dass sie in diesen Büchern mit der reinen Wahrheit konfrontiert werden. Wenn aber die sogenannte Wahrheit antimuslimische Narrative beinhaltet, dann besteht die Gefahr, dass Lehrkräfte und Schüler:innen diese Inhalte internalisieren und weiterverbreiten. Deshalb ist es ganz besonders wichtig, dass wir aufpassen, was in den Schulbüchern veröffentlicht wird.

Sarah Zendeh: Inwieweit muss sich die Ausbildung und Arbeit der angehenden Lehrkräfte verändern, um eine höhere Sensibilität für antimuslimischen Rassismus zu fördern?

Karim Fereidooni: Wir müssen bei der Universitätsausbildung (1. Phase der Lehrer:innenbildung) ansetzen und sowohl diese als auch die Studienseminar-Ausbildung (2. Phase der Lehrer:innenbildung) verändern. Der Themenkomplex Rassismus und im Speziellen antimuslimischer Rassismus muss in die Lehrer:innenausbildung und -fortbildung implementiert werden und die Lehrpläne müssen sich soweit verändern, dass antimuslimischer Rassismus als explizite Erscheinungsform des Rassismus vorkommt.

Dazu müssen auch Seminar-Dozierende und die Dozierenden der Universität entsprechend geschult werden und Kompetenzen erwerben, wie sie rassistischem und diskriminierendem Verhalten entgegenwirken können. Zum anderen ist es notwendig, dass in den Schulbuchverlagen eine Diversifizierung stattfindet, sowohl in der Auswahl der Bilder und Statistiken zum Thema Islam und Muslim:innen, als auch hinsichtlich der Zusammensetzung der Gremien, die über Lehrpläne und Schulbuchinhalte entscheiden, denn diese Gremien sind bislang kein Spiegelbild unserer Gesellschaft und das muss sich ändern.

Sarah Zendeh: Häufig berichten uns Lehrer:innen, dass sie weder Zeit noch Ressourcen haben, um sich noch mit dem Thema Rassismus zu beschäftigen. Sie fühlen sich ohnehin bereits überlastet und überfordert. Welche Maßnahmen bzw. welche Haltungen können dabei helfen, dass Lehrkräfte in einem kontinuierlichen Reflexionsprozess bleiben, um rassistischem Verhalten entgegenzuwirken?

Karim Fereidooni: Anschließend an die individuellen Maßnahmen, die ich eben genannt habe, ist es natürlich auch wichtig, über strukturelle Maßnahmen zu sprechen. Aus meiner Sicht ist das derzeitige deutsche Schulsystem nicht darauf ausgelegt, Schüler:innen adäquat zu beschulen und die Gesundheit der Lehrkräfte zu erhalten bzw. zu fördern. Wir verlangen sehr viel von Lehrkräften, ohne ihnen die entsprechenden Ressourcen an die Hand zu geben und wir schmeißen sie in ein System, das gar nicht darauf angelegt ist, langfristig über Ungleichheitsstrukturen nachzudenken. Aus diesem Grund plädiere ich zuerst einmal für strukturelle Reformmaßnahmen. Das bedeutet beispielsweise, dass sowohl die Anzahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden pro Lehrkraft als auch die Anzahl der Schüler:innen pro Klasse auf je 15 reduziert werden müssen. Damit wird ermöglicht, dass sich Lehrkräfte adäquat auf den Unterricht vorbereiten und Fortbildungen besuchen können und dass innerhalb der Klassen kontinuierlich Projektarbeit geleistet und Binnendifferenzierungen vorgenommen werden kann. Diese strukturellen Maßnahmen unterstützen Lehrkräfte dabei, menschenverachtenden Aussagen entschlossen entgegenzutreten und sich im Sinne des Grundgesetzes zu positionieren. Der gegenwärtige Status quo in der deutschen Schullandschaft führt hingegen dazu, dass sich Lehrkräfte gestresst fühlen und sie haben keine Zeit haben, um sich weiterzubilden und eine bestimmte Haltung zu entwickeln. Die Verantwortung sehe ich hier eindeutig in der Politik: Diese muss den UEM-Bericht lesen, den Maßnahmekatalog durchgehen und entschlossen die von uns entwickelten Lösungsmöglichkeiten umsetzen. Innerhalb dieses Themenkomplexes, egal ob antimuslimischer Rassismus oder Antisemitismus und alle weiteren Diskriminierungsformen gibt es nämlich kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungs- bzw. Umsetzungsdefizit der Politik. Darin liegt das Problem und dieses muss die Politik beheben. Für den Bildungsbereich heißt das, dass auf einer strukturellen Ebene, im Sinne einer Reform des deutschen Schulwesens, gehandelt werden muss, damit Lehrkräfte und Schüler:innen darin unterstützt werden, Ungleichheitsstrukturen im Unterricht zu thematisieren.

Sarah Zendeh: Wie können Menschen mit Migrationsbiografie für den Lehrer:innenberuf begeistert bzw. als Lehrkräfte ins deutsche Schulsystem eingebunden werden und zwar sowohl Deutsche mit Migrationsgeschichte als auch Lehrkräfte, die aus anderen Ländern nach Deutschland geflüchtet sind?

Karim Fereidooni: Hier würde ich erstmal zwischen diesen beiden Gruppen differenzieren. Was Geflüchtete betrifft, die bereits in ihren Heimatländern als Lehrkräfte gearbeitet haben, gibt es aus meiner Sicht zwei Hürden: Zum einen müssen angehende Lehrer:innen in Deutschland in zwei Fächern und Bildungswissenschaft einen Masterabschluss erwerben. In vielen Staaten der Welt reicht der Bachelor aus und Lehrkäfte unterrichten nur ein Fach. Deshalb werden ausländische Berufsabschlüsse oft nicht anerkannt. Die zweite Herausforderung betrifft die Diskriminierung im Kollegium, wenn man Deutsch mit einem Akzent spricht oder grammatikalische Fehler macht. Im Rahmen meiner Doktorarbeit zum Thema Rassismuserfahrungen von Referendar:innen und Lehrkräften habe ich beispielsweise herausgefunden, dass es in Bezug auf Diskriminierungserfahrung nicht egal ist, welcher Akzent gesprochen wird, da es einige Akzente gibt, die negativer wahrgenommen werden (z.B. Türkisch, Arabisch oder Russisch) als andere. Ist hingegen eine Person Englisch Native Speaker, wird sie, auch von Seiten der Schulleitung, positiv wahrgenommen, weil dieser Akzent als „schick“ gilt. Bezüglich Personen mit internationaler Familiengeschichte, die in Deutschland geboren sind, sehe ich das aus einer anderen Perspektive, da sie einen „deutschen“ Bildungshintergrund haben. Hier geht es aus meiner Sicht um Empowerment und Stärkung der Resilienz in Bezug auf Rassismuserfahrungen im deutschen Schulwesen. Es gibt einige Personen, die das Referendariat abbrechen, weil ihnen suggeriert wird, dass sie nicht dazugehören. Wiederum andere betätigen sich als Change Agents, die selbst Rassismuserfahrungen in Schulen gemacht haben und nun ein positives Vorbild für Schüler:innen sein möchten und sich für die Veränderung von Schulen einsetzen.

Sarah Zendeh: Wenn wir jetzt noch mal den Blick auf die Schüler:innen mit Migrationsbiografie richten: Welche Strukturen bzw. Unterstützung helfen ihnen dabei, um gleichberechtigt im Schulsystem teilhaben zu können?

Karim Fereidooni: Es ist sehr wichtig, dass Schüler:innen mit Rassismuserfahrungen nicht alleingelassen werden. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass es an jeder einzelnen Schule etablierte Beschwerdestrukturen gibt und sie die Gewissheit haben, dass eine Beschwerde, beispielsweise bei einer Antidiskriminierungsstelle an der Schule, positive Konsequenzen hat. Eine „Schule ohne Rassismus“-Plakette allein reicht nicht aus, um eine rassismuskritische Schule zu werden. Das heißt, es muss konsequent daran gearbeitet werden, dass diese Plakette auch mit Leben gefüllt wird, beispielsweise in Form von Fortbildungen für Lehrkräfte und anderen Projekten. Es gibt nämlich auch Schulen, die seit Jahren nichts mehr in diesem Bereich machen und trotzdem diese Plakette besitzen. Damit das nicht passiert, müssen regelmäßig Studien durchgeführt und die Maßnahmen der Schule evaluiert werden. Zu einer Schule, die diese Plakette trägt, gehören Beratungsstrukturen, Beschwerdestrukturen und regelmäßige Fortbildungen für Lehrkräfte – diese müssen Rassismuskritik als Professionskompetenz anerkennen. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig guten Unterricht zum Thema Rassismus zu machen und Unterrichtsmaterialien mit einer rassismuskritischen Perspektive zu behandeln. Wenn es um Reformmaßnahmen im Bereich der Rassismuskritik geht, sind für mich die Schüler:innen der wichtigste Motor: Es ist wichtig, ihnen aktiv zuzuhören und die Lehrkräfte sollten eine offene Haltung haben, wenn ihnen Schüler:innen von Rassismuserfahrungen berichten. Denn aufgrund der Notenmacht der Lehrkräfte ist es für Schüler:innen oftmals schwierig, Rassismus anzusprechen. Zudem wird häufig noch angenommen, dass es Rassismus nur bei den extremen Rechten gibt oder er ein Problem der Vergangenheit ist. Das führt dazu, dass Schüler:innen mundtot gemacht werden, da sie mit negativen Konsequenzen rechnen müssten, wenn sie Rassismus ansprechen.

Sarah Zendeh: Gibt es in Deutschland Schulen, die sich auf dem Weg gemacht haben, rassismussensibel zu arbeiten und von denen gelernt werden kann?

Karim Fereidooni: Es gibt in allen Bundesländern Schulen, die sich auf dem Weg gemacht haben, einen rassismuskritischen Organisationsprozess durchzulaufen. Mit Hilfe von externen Partner:innen veranstalten diese Schulen Workshops, Vorträge oder erhalten Beratungsunterstützung, damit sie weiterhin diesen Weg gehen können. Alleine werden diese Schulen es nicht schaffen, diesen Prozess zu bewältigen, deshalb rate ich allen Schulen, externe Kooperationspartner:innen in Anspruch zu nehmen, Workshops zu buchen sowie Vorträge zum Thema Rassismusikritik zu organisieren. Mit dieser Form von Unterstützung können Schulen sowohl individuelle als auch schulspezifische Konzepte entwickeln, die dem Label „Rassismuskritische Schule“ auch tatsächlich Rechnung trägt.

Sarah Zendeh: Herr Fereidooni, vielen Dank für Ihre Expertise und das interessante Gespräch!


Wir freuen uns sehr über das Interesse von Medien am Thema – z.B. hat das MiGAZIN das Interview mit Saba-Nur Cheema veröffentlicht. Beide Interviews sind auch auf der Website der Deutschen Islam Akademie zu finden. Gemeinsam können wir Bewusstsein schaffen und für Veränderung eintreten.