Dekoloniale Perspektive
Historischer Hintergrund
Die Westsahara liegt im Nordwesten Afrikas zwischen Marokko, Mauretanien und Algerien. Mit einer Fläche von rund 266.000 Quadratkilometern, die etwa der Größe Großbritanniens entspricht, ist sie eines der rohstoffreichsten, aber auch politisch umstrittensten Gebiete Afrikas.
Koloniale Ursprünge (1884–1950er Jahre)
Die Geschichte dieses Konflikts beginnt mit der europäischen Kolonialisierung Afrikas. Im Rahmen der Berliner Kongokonferenz von 1884/85 wurde Spanien die Hoheit über das Gebiet übertragen, das fortan als Spanisch-Sahara verwaltet wurde. Spanien errichtete Handelsstützpunkte und nutzte die Küste für Fischerei und Rohstoffexporte, während das Landesinnere weitgehend unter der Kontrolle der saharauischen Stämme blieb.
Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte das Prinzip der Selbstbestimmung in den Fokus der internationalen Politik. Die Resolution 1514 (XV) der UN-Generalversammlung von 1960 erklärte die Entkolonialisierung zu einem universellen Menschenrecht und forderte das Ende aller Kolonialherrschaften. Für die Westsahara bedeutete dies das formale Ende der spanischen Kontrolle, ein Schritt, der allerdings verzögert wurde.
Der Beginn der Unabhängigkeitsbewegung (1960–1975)
In den 1960er-Jahren forderten saharauische Aktivist:innen zunehmend politische Rechte. Um den bewaffneten Widerstand gegen die spanische Kolonialmacht zu organisieren, wurde 1973 die Frente POLISARIO (Frente Popular de Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro) gegründet. Im selben Jahr entdeckte Spanien große Phosphatvorkommen bei Bou Craa, wodurch sich das wirtschaftliche Interesse an der Kolonie weiter verstärkte.
Die UN-Resolution 2229 (XXI) von 1966 und nachfolgende Resolutionen forderten Spanien auf, ein Referendum über Selbstbestimmung durchzuführen. Spanien bereitete 1974 eine Volkszählung vor, doch dieser Schritt wurde durch politische Entwicklungen überschattet.
Der „Grüne Marsch“ und die marokkanische Besatzung (1975–1976)
Im Oktober 1975 kam der Internationale Gerichtshof (IGH) in seinem Gutachten zur Westsahara zu dem Schluss, dass das Selbstbestimmungsrecht der saharauischen Bevölkerung zu respektieren sei, und stellte fest, dass zwischen Marokko und der Westsahara keine Bindungen der Souveränität bestehen.
Nur wenige Wochen später organisierte König Hassan II. den sogenannten „Grünen Marsch“, bei dem mehr als 300.000 Marokkaner:innen in die Westsahara einmarschieren, um den Anspruch Marokkos symbolisch zu untermauern.
Im November 1975 unterzeichnete Spanien das Madrid-Abkommen mit Marokko und Mauretanien und zog sich aus dem Gebiet zurück, was von den Vereinten Nationen nicht anerkannt wurde. Damit begann die militärische Besetzung der Westsahara durch Marokko im Norden und Mauretanien im Süden.
Krieg und Teilung (1976–1991)
Am 27. Februar 1976 wurde die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) von der POLISARIO ausgerufen, die von zahlreichen Staaten anerkannt wurde und Mitglied der Afrikanischen Union ist. Zehntausende Sahrauis flohen in den folgenden Jahren vor der marokkanischen Armee in Flüchtlingslager im Südwesten Algeriens.
Nach dem Rückzug Mauretaniens im Jahr 1979 besetzte Marokko auch den südlichen Teil der Westsahara und errichtete eine 2.700 Kilometer lange militärische Befestigung, den sogenannten Sandwall („Berm“), der das Land bis heute in zwei Zonen teilt: den von Marokko besetzten Gebiete im Westen und die von der POLISARIO verwaltete befreite Gebiete im Osten.
UNO-Friedensplan und ausbleibendes Referendum (1991–heute)
1991 vermittelte die UNO einen Waffenstillstand und schuf die Mission MINURSO (Mission des Nations Unies pour l’Organisation d’un Référendum au Sahara Occidental), deren Ziel darin bestand, ein Referendum über Selbstbestimmung der Saharauis durchzuführen. Dieses Vorhaben konnte bis heute nicht umgesetzt werden, da Marokko den Identifizierungsprozess des Referendums nicht anerkennt.
Die UNO erkennt die Westsahara weiterhin als „nicht selbstverwaltetes Gebiet“ an, und kein Staat der Welt erkennt die Souveränität Marokkos offiziell an.
Seit Jahrzehnten leben mehr als 170.000 Saharauis unter schwierigen Lebensbedingungen in Flüchtlingslagern bei Tindouf (Algerien), während Marokko in den besetzten Gebieten eine umfassende Infrastruktur-, Siedlungs- und Wirtschaftsstrategie verfolgt.
Die Westsahara ist somit ein Symbol ungelöster kolonialer Verantwortung, in dem sich historische Ungerechtigkeit, geopolitische Interessen und die Frage der globalen Solidarität miteinander verflechten.
